Der traurige Start ins Leben
Milchkühe werden entweder in Laufställen oder in Anbindehaltung gehalten. An einem dieser Orte kommt auch das Kalb zur Welt. Schon von Beginn an gilt: Die Bedürfnisse des Neugeborenen sind der Effizienz untergeordnet. So gibt es oft keine sogenannten separaten Abkalbeboxen, in denen sich die Mutter und das Kalb in einer geschützten Umgebung auf weicher Einstreu von der Geburt erholen können. Stattdessen wird das Kalb auf kargem Spalten- oder Betonboden geboren und ist seiner Umgebung schutzlos ausgeliefert. Da die Ställe oft voll sind, können die Tiere kaum Abstand halten und treten unter Umständen aus Versehen auf das Kalb. Zudem können Mistschieber das Kleine verletzen.
Muss die Mutter in Anbindehaltung leben, gebärt sie auch ihr Kalb in fixiertem Zustand. Ihr Nachwuchs fällt direkt in die Mistrinne hinter ihr. Sie kann sich hier weder zu ihrem Kind umdrehen, es trocken lecken noch einen ersten Kontakt aufbauen. In manchen Fällen sind die beiden Tiere völlig auf sich allein gestellt, wenn das Betriebspersonal die Geburt nicht überwacht. Das ist besonders kritisch, weil das Kalb darauf angewiesen ist, schnellstmöglich Kolostrum zu erhalten. Das ist die Erstmilch, die lebenswichtige Antikörper enthält. Bleibt die Fütterung damit aus oder erfolgt sie zu spät, kann das langfristige gesundheitliche Folgen für das Tier haben.
Eigentlich möchte das neugeborene Kalb bei seiner Mutter bleiben, die ihm Wärme spendet und vor der Außenwelt schützt. Stattdessen trennen die Halter*innen die beiden Tiere in der Regel direkt nach der Geburt. Schließlich dient die Kuhmilch in einer Wirtschaft, die Profit über das Leben der Tiere stellt, nicht als Nahrung für ein Neugeborenes, sondern als Produkt, das gewinnbringend verkauft werden soll. Dementsprechend erhalten Mutter und Kind selten die Möglichkeit, ein paar Tage gemeinsam zu verbringen. Findet die Trennung danach statt, ist der Schmerz so groß, dass sie tagelang nacheinander rufen. Das spricht aber nicht für die sofortige Separation, sondern gegen das System, in dem ein Neugeborenes ohne seine Mutter zurechtkommen muss, und eine Mutter nicht mehr als eine bloße Produktionsmaschine ist.
Die ersten Lebenswochen verbringt das Kalb in einem sogenannten Kälberiglu, eine kleine Hütte aus Kunststoff im Freien. Dort ist es gänzlich allein, isoliert von seinen Artgenossen. Sein natürliches Sozialverhalten kann es demnach nicht ausleben, weder mit anderen toben noch spielen. Es muss nicht nur ohne die Wärme seiner Mutter zurechtkommen, sondern auch ohne die Milch. Statt nach Belieben bei ihr trinken und sein angeborenes Saugbedürfnis erfüllen zu können, muss es mit sogenanntem Milchaustauscher vorliebnehmen. Allerdings ist dieser nicht jederzeit zugänglich, sondern oft nur zweimal täglich. Aus diesem Grund ist das Kleine bei der Fütterung oft so hungrig, dass es zu hastig trinkt, wodurch es Verdauungsprobleme erleiden kann.
Anpassung an ein krankes System
Da Tierhalter*innen den Tieren meist nur enorm wenig Platz gewähren, kommt es zu unerwünschten Nebeneffekten. Stehen Rinder eng an eng zusammengepfercht in Ställen und können sich nicht aus dem Weg gehen, verletzen sie einander unter Umständen aus Versehen mit ihren Hörnern. Die logische Schlussfolgerung wäre, die Haltung an die Tiere anzupassen und ihnen ständigen Auslauf auf einer großen Weide zu ermöglichen. In der Realität setzt die tierhaltende Industrie auf eine brutale Maßnahme: die Amputation. Mit einem heißen Brennstab, durch Gas oder Strom betrieben, brennt das Betriebspersonal die Hornanlagen des kleinen Kalbes aus. Dieses Vorgehen ist bis zu einem Alter von sechs Wochen erlaubt. Eine lokale Betäubung ist weder vorgeschrieben noch gängige Praxis. Das Personal ist aber dazu verpflichtet, das Kalb zu sedieren und ihm Schmerzmittel zu verabreichen. Diese reichen aber nicht annähernd aus, um gegen die unerträglichen Schmerzen zu helfen. Darüber hinaus nehmen die Tierhalter*innen dem Tier ein wichtiges Mittel zur Kommunikation mit seinen Artgenossen weg.
In den wenigsten Fällen halten Landwirtinnen und Landwirte die Kälber schon in den ersten Wochen in Gruppen. Erst ab der achten Woche ist die Gruppenhaltung Pflicht, wobei – wie so oft – Ausnahmen geltend gemacht werden können. Bis dahin wächst das Kalb ohne den so wichtigen Körperkontakt und soziale Interaktionen auf. Vorgaben zu der Gruppengröße gibt es nicht, denn sie hängt davon ab, wie viele gleichaltrige Kälber im Betrieb leben. Das bedeutet, dass es unter Umständen eng werden kann, das Mindestmaß an 1,5 Quadratmetern muss dem Kalb aber zur Verfügung stehen.
Darüber hinaus fehlt es dem jungen Tier gänzlich an Vorbildern. Normalerweise würde es seine erwachsenen Artgenossen beobachten, sich typische Verhaltensweisen abschauen und sie nachahmen. Wie auch wir Menschen lernt es von seiner Mutter oder Erwachsenen in der Herde, schließt Freundschaften und geht soziale Verbindungen ein. Diese Dynamiken können sich in der Tierhaltung nicht entfalten, vielmehr sorgt die tierfeindliche Umgebung für Verhaltensstörungen. Da das Kalb seinem angeborenen Saugbedürfnis nicht bei seiner Mutter nachgehen kann, besaugt es aus purer Verzweiflung andere Kälber. Das kann bei ihnen zu quälenden Entzündungen führen.
Das Kalb wächst zum erwachsenen Tier heran und ist eine von etwa 3,7 Millionen Milchkühen, die in Deutschland gehalten werden. Sie lebt entweder in einem Liegeboxenlaufstall wie die meisten Tiere oder in Anbindehaltung. Im Gegensatz zur Anbindehaltung hat das Tier im Liegeboxenlaufstall einen gewissen Bewegungsfreiraum und es gibt Liegeplätze. Doch dieser trostlose Ort ist in keinster Weise mit einer Weide zu vergleichen, wo die Tiere sich frei bewegen und dabei gemeinsam grasen können. Das ist nur 30 Prozent der konventionell gehaltenen Milchkühe in Deutschland möglich. Statt auf einer saftigen Wiese zu grasen und wiederzukäuen, verharrt das Tier auf hartem Spalten- oder Betonboden, der von Kot und Urin bedeckt ist. Dieser ist so nass und rutschig, dass das sanfte Tier ständig aufpassen muss, nicht auszurutschen. Arteigenen Verhaltensweisen nachzugehen, ist in diesem Umfeld nur eingeschränkt möglich. Die Kuh hat zu wenig Platz und leidet unter Stress.
Ist sie eine von den 410.000 Milchkühen, die ihr Leben in Anbindehaltung fristen müssen, ist ihr Alltag noch wesentlich eintöniger. 71 Prozent davon, also 291.000 Tiere, leben sogar ganzjährig angebunden. Von einem Leben kann hier eigentlich nicht die Rede sein: Die Kuh kann nicht nur nicht grasen , sondern überhaupt nicht umherlaufen, sich nicht mal hinlegen, wie sie möchte und keinerlei Sozialkontakte mit anderen Artgenossen pflegen. Vor allem in Süddeutschland ist diese Haltungsform weit verbreitet.
Das Leben als Gebärmaschine
Als Milchkuh hat das Tier nun genau eine Funktion: Sie muss jedes Jahr ein Kalb bekommen, damit sie eine möglichst hohe Milchleistung erbringt. Hier wiederholt sich all das, was ihre eigene Mutter schon erleiden musste: Im Alter von ungefähr 15 Monaten wird sie das erste Mal künstlich besamt und ist danach neun Monate trächtig. Auch sie kann mit ihrem Kalb keine gemeinsame Zeit verbringen, es nicht pflegen und keinerlei Mutter-Kind-Bindung zu ihm aufbauen. Denn auch ihre Milch ist für den Verkauf gedacht. Um ihre Rolle als Gebärmaschine zu erfüllen, wird sie nur wenige Wochen nach der Geburt erneut besamt. Jedes Jahr wird sie nun ein Kalb zur Welt bringen und ist den Großteil ihres Lebens trächtig, ohne mit ihrem Nachwuchs jemals echten Kontakt haben zu dürfen.
Bringt die Kuh ein männliches Kalb auf die Welt, erwartet das Kleine ein bitteres Schicksal. Da es von der sogenannten Milch-Hochleistungsrasse stammt, legt es nicht genug Fleisch an, weshalb es für die Mast nicht geeignet ist. Zudem gibt es keine Milch. Diese beiden Kriterien machen es regelrecht zu Wegwerfware, denn aus wirtschaftlicher Sicht ist es wertlos. In Zahlen gesprochen bedeutet dies, dass jährlich etwa 620.000 Kälber ins Ausland verkauft und dorthin transportiert werden, schon ab einem Alter von 28 Tagen. Hinter dieser Zahl verbergen sich nicht nur die männlichen Tiere aus der Milchindustrie, sondern alle ins Ausland verkauften Kälber. Der Transport in Länder wie die Niederlande, Italien, Spanien, Belgien, Frankreich oder Polen ist äußerst stressig für die Tiere. Noch schlimmer ist die anschließende kurze Mast, gefolgt von der Schlachtung nach nur eineinhalb Jahren. Ein kurzes, qualvolles Leben.
Ausbeutung für den Profit
Währenddessen ist seine Mutter dazu gezwungen, Höchstleistungen zu erbringen, die ihre körperlichen Grenzen völlig überschreiten. Während eine Milchkuh 1990 ungefähr 4.700 Liter Milch jährlich gab, waren es 2023 bereits 8.780 Liter. Das hochgezüchtete Tier wird weit über seine physischen Möglichkeiten hinaus ausgebeutet. Ungeachtet ihrer natürlichen Bedürfnisse muss die Kuh ständig Milch geben, auch wenn sie trächtig ist. Sie leidet oft unter unvorstellbaren Schmerzen und körperlichem Verschleiß. Stoffwechselerkrankungen, Lahmheiten oder Euterentzündungen sind die wichtigsten Beispiele für das Opfer, das das Tier für den menschlichen Konsum erbringen muss.
Ganz gleich, ob die Kuh Zugang zu einer Weide bekommen hat, in einem Laufstall oder in Anbindehaltung gelebt hat, steht ihr am Ende ihres traurigen Lebens die Schlachtung bevor – sofern sie nicht zuvor verendet ist oder notgetötet wurde. Das dunkle letzte Kapitel beginnt dann, wenn das Tier nach ungefähr fünf Jahren als Folge der schlechten Haltungsbedingungen und der erzwungenen hohen Leistung dermaßen ausgezehrt ist, dass ihre Milchleistung sinkt oder sie nicht mehr trächtig wird. Aus ökonomischen Gründen lassen manche Landwirtinnen und Landwirte das Tier zu diesem Zeitpunkt nicht mehr medizinisch behandeln. Da sie keinen Profit mehr einbringt, führt ihr Weg unweigerlich in den Schlachthof.
Der Transport ist für das Tier extrem kräftezehrend und stressig. Er kann nur wenige Minuten oder viele Stunden betragen. Alles bis acht Stunden gilt als Kurzstreckentransport. Es ist aber erlaubt, die Tiere viel länger zu transportieren – bis zu 14 Stunden am Stück. Danach muss jeweils eine Pause von nur einer Stunde eingelegt werden und sie müssen weitere 14 Stunden über sich ergehen lassen. Wenn der Schlachthof besonders weit weg ist, kann dieser Rhythmus sich sogar wiederholen. Nach zwei 14-Stunden-Strecken muss der Transport zwar 24 Stunden pausieren, bevor dieser Rhythmus von vorne beginnt, aber erholen können die verängstigten Tiere sich so nicht.
Am Schlachthof angekommen, kommt die Kuh zusammen mit den anderen Tieren in den Wartebereich. Hier sollen sich die Tiere eigentlich vom Transport erholen, doch die Geräusche von Betäubungen und Schlachtungen machen den Tieren oft Angst. Diese muss die Kuh durchstehen, bis sie selbst an der Reihe ist. Das Betriebspersonal fixiert ihren Kopf selbst oder dieser Vorgang passiert durch eine vollautomatische Box. Für den Bolzenschuss setzt die*der Mitarbeiter*in das Gerät direkt an der Stirn an und schießt. Wenn alles nach Plan läuft, bricht das Tier sofort zusammen. Fehlbetäubungen lassen sich allerdings nicht ausschließen – bei Schlachtrindern liegt die Quote bei etwa vier bis neun Prozent, kann aber auch darüber liegen. Die Zahlenlage ist hier leider undurchsichtig. Das heißt, unter Umständen ist das Tier nicht ausreichend betäubt, wenn der letzte Schritt erfolgt: der Bruststich. Mit einem Messer eröffnet das Personal die großen Blutgefäße beim Herzen des aufgehängten Tieres, das nun durch den rapiden Blutverlust stirbt.
Eigentlich könnte die Kuh 20 Jahre alt werden.
All das muss die Kuh durchstehen, damit der Mensch Milchprodukte verzehren kann. Doch es geht anders – vegan und tierfreundlich. Auf unserer Website findest Du Artikel und Tipps rund um die pflanzliche Lebensweise sowie zahlreiche Rezepte. Auch gedrucktes Infomaterial kannst Du ganz einfach über unser Bestellformular anfordern und wir schicken es Dir zu. Für mehr Informationen schau Dir unser multimediales Scrolly über das Leben einer Milchkuh in der industriellen Tierhaltung an.
Von Melanie Frommelius, Redakteurin beim Deutschen Tierschutzbund